Felix Studinka: plötzliche Begegnung

3. – 31. Mai 2014

Vor drei Jahren, anlässlich seiner ersten Ausstellung in der Galerie Denzler, und schon zuvor, im Kunstzeughaus Rapperswil, hat uns Felix Studinka mit der Aussage herausgefordert, dass er nicht Bäume zeichne, obwohl sich alle gezeigten Werke auf Bäume bezogen. Ist das Koketterie? Auch in der gegenwärtigen Ausstellung finden wir kleine Serien, die mit Kastanie, Eukalyptus oder Eiche betitelt sind. Einen bedeutenden Teil der Ausstellung nehmen jedoch die Wandobjekte mit dem Titel spool ein, in denen keinerlei Bezug zu Bäumen feststellbar ist.

Ob Felix Studinka mit diesen Werken von seinem bisherigen Weg ausschert, lässt sich nicht auf Anhieb sagen. So wie ein unbekanntes Geräusch erst erträglich wird, wenn man seine Quelle ausgemacht hat, könnte man auch hier der eigenen Verunsicherung begegnen, indem man diese Objekte zunächst einfach beschreibt. Vielleicht lässt sich dann auch ihre Beziehung zu den Baum-Zeichnungen näher bestimmen.

Man kann nicht alle drei Werke gleichzeitig betrachten. Sie sind zu gross für unser Blickfeld. Zudem haben wir nur drei Elemente einer 7-teiligen Serie vor uns, für deren Gesamtheit die Galerieräume wiederum zu klein sind. Zuerst wird man sich also der eigenen Körpergösse und der räumlichen Begrenzungen bewusst, und dies vor allem deshalb, weil die Werke unsere Aufmerksamkeit auf nichts anderes lenken als auf ihre eigene Präsenz. Sie scheinen über der Wand zu schweben und haben alle den gleichen, von einer Ellipse abgewandelten Umriss. Sie bestehen auch aus den gleichen Materialien, wobei nur weisser Karton und Tusche bildbestimmend sind, während der Bildträger aus Holz unsichtbar bleibt.

Die Dürftigkeit des sinnlichen Angebots lässt die Aufmerksamkeit zu anderen Besonderheiten schweifen: auf die physische Präsenz, die wir mit den Objekten teilen, aber auch auf ihren Entstehungsprozess. Die Tusche wurde nämlich nicht mittels Pinsel oder dergleichen auf den Karton aufgetragen, sondern indem die Tafel vertikal in ein mit Tusche gefülltes Becken getaucht und dann im Uhrzeigersinn darin gedreht wurde. Kurz vor einer vollständigen Umdrehung wurde die Tafel wieder aus dem Bad gehoben und anschliessend gewässert. Was die einzelnen Tafeln voneinander unterscheidet, ist nur zwei Elementen geschuldet: der Pegelstand der Tusche bestimmt die Breite des Saums und das Zusammentreffen von Karton, Tusche und Wasser ergibt die eigentümliche Zeichnung. Erst in der Zusammenschau der drei Tafeln wird deutlich, dass die unberührt gebliebenen weissen Flächen nicht neutrale Zonen sind, sondern durchaus eine ästhetisch aktive Rolle spielen.

Nicht umsonst steht spool ebenso für eine Form, nämlich Spule oder Rolle, wie für die entsprechende Tätigkeit, spulen, abwickeln. Der Titel macht darauf aufmerksam, dass die Form und die an ihr vorgenommene Handlung sich gegenseitig bedingen. Das Drehen bringt die Kontur zur Geltung, doch umgekehrt macht auch die Kontur das Drehen erst möglich. Wenn man die Zeichnungen von der Kastanie beizieht – immerhin sind sie im gleichen Zeitraum entstanden – mag man sich daran erinnern, dass Felix Studinka immer wieder betont, dass beim Zeichnen mehr Akteure beteiligt sind als nur der Zeichner und sein Motiv. In spool taucht die Frage nach den beteiligten Akteuren darum auf, weil wir einige von ihnen vermissen: Es fehlt ein bildstiftender Anlass, zum Beispiel in der Natur, es fehlen die Spuren eines Werkzeugs, und auch der Künstler ist nur noch insofern fassbar, als er es seinen Materialien überlässt, aufeinander zu wirken.

Die Sinne sind nicht nur Empfänger von Reizen, sondern sie kundschaften auch aus. «Zeichnend sehen» bezieht alle Faktoren mit ein, die der Zeichner vor seinem Motiv vorfindet. Zu diesen gehören zum Beispiel auch die konkrete Beschaffenheit des Arbeits-materials oder die Begrenzungen des Papiers. In vereinzelten Zeichnungen der Kastanie lässt sich verfolgen, wie vertikal gezogene Linien die Ränder des Papiers ins Bild rücken und damit zu Bewusstsein bringen, dass selbst das Papierformat eine aktive Rolle im Sehprozess einnehmen kann. spool zeigt eine Verwandtschaft mit solchen Zeichnungen, insofern auch diese Serie daran erinnert, dass das Ausschnitthafte, die Rahmung, ebenso zum Wesen des Sehens gehört wie zum Wesen des Bildes.

Die Aufmerksamkeit des Künstlers gilt also nicht der Kastanie oder der Eiche, wie die Titel glauben lassen, sondern den Erfahrungen, die er an, oder vielmehr mit ihnen untersuchen kann. Nehmen wir die Serie der schwarz getupften Eiche als Beispiel: zahlreiche Zeichnungen vor diesem Baum führen unverhofft dazu, dass sich im Gewirr seines Laubes die Ahnung gleichförmiger, zähflüssiger Bewegungen einstellt. Diese Wahrnehmung lässt sich nicht lange aufrechterhalten, doch sie gibt Anlass zu einer Reihe von etwa zehn Zeichnungen, die nur aus wenigen geraden Linien bestehen. Ob ein solcher Richtungsstrom dann durch das Ziehen einer Linie bestätigt wird oder, wie hier, durch ein paar minimale Pinselhiebe, die sich erst im Auge des Betrachters zu einer Strömung formieren, ist im Grunde unbedeutend. Entscheidender ist, dass solche Arbeiten eine Wahrnehmung bezeugen, die sich nur darum bemerkbar gemacht hat, weil sie simultan aufgezeichnet wurde. Zeigen und Bezeugen, Sehen und Handeln bedingen sich gegenseitig.

Es gibt kein Sehen ohne physische Beziehung zu einem Gegenstand. Der Blick muss einer Sache erst begegnen, bevor er ihr Aufmerksamkeit schenken kann. Im Wort «Begegnung» klingt schon so etwas wie ein Aufprall an. Eine Begegnung impliziert eine Entgegnung. Und tatsächlich, wenn Felix Studinka sich teilweise über Monate, ja über Jahre mit ein und demselben Baum befasst, dann nicht, weil er ihm eine so überragende Bedeutung beimisst – im Gegenteil: Je öfter er sich demselben Motiv zuwendet, desto weniger bedeutet es etwas, desto weniger weckt es Erwartungen und gibt stattdessen den Blick frei auf etwas, das wirklich neu ist. Eine Erfahrung wird dann als besonders intensiv und deutlich erlebt, wenn man nicht auf sie vorbereitet war. Hier ereignet sich die plötzliche Begegnung. Der «Aufprall» mag heftig sein oder auch sehr sanft. Der Kontakt, den der Zeichner schätzt, stellt sich ein, wenn die Beteiligten einen Teil ihrer Kontrolle oder ihrer Selbstbezogenheit aufgeben; wenn etwas aufblitzt, das einer Ordnung angehört, die dem alltäglichen, einordnenden Blick unzugänglich bleibt.

Der sichtbare Gegenstand ist stets prekär in dem Sinne als er in etwas vollkommen Unbekanntes, Neues, Anfängliches kippen kann. Das lässt sich nirgendwo leichter feststellen als in der Natur. Der französische Autor Paul Valéry schreibt: «‘Natur‘, das heisst das Gegebene. Nichts weiter. Alles Uranfängliche. Jeder Beginn.» So mag ein Baum in unserem Zusammenhang agieren: wie ein Anstoss, wie ein Hilfsmittel zur Einsicht, dass das einzige, was wirklich wahr ist, die Wahrnehmung ist.

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