Felix

Taras Prochasko

Ich war erst wenige Jahre alt als meine Großmutter starb. Deshalb kann ich mich an vieles, was sie sagte, nicht mehr erinnern. Dennoch hatte alles was sie sagte, etwas gemeinsam, wie sich später zeigen sollte. Mit der Zeit, mit zunehmendem Alter, mit wachsender Erfahrung bekam jede ihrer Sentenzen eine immer gewichtigere Bedeutung. Einmal blätterten wir gemeinsam in einem sehr genauen Anatomieatlas. Da sagte die Großmutter, einen solchen Menschen wie im Anatomieatlas gebe es in Wirklichkeit nicht. Das sei ebenso eine Abstraktion wie der Normbegriff.

Mein ganzes weiteres Leben erweiterte und vertiefte sich die Einsicht, die in der Bemerkung der Großmutter lag. Sie ging weit über das Lehrbuch für Normalanatomie oder pathologische Physiologie hinaus. Sie wurde immer wieder durch Geschichten und Stilrichtungen verschiedener Autoren illustriert, durch unvergessliche Gesichter und vergessene Worte. Ich habe mich überzeugt, dass man die größte Einmaligkeit darin finden und erspüren kann, was ähnlich und unveränderlich scheint: in den Jahreszeiten, in den Stunden des Tages, in der Farbe des Grases, in der Durchsichtigkeit des Wassers, in den Kieselsteinen am Flußufer, in den anatomischen Lieblingsdetails… Ganz zu schweigen von den Absonderlichkeiten der Menschen, wenn man jede Person für einen wahrscheinlichen Punkt hält, durch den die Achse der Norm verläuft. Dass all diese Punkte im gemeinsamen Chaos eigener Achsen koexistieren müssen, ist eine andere Sache.

Mit Felix zu koexistieren war sehr leicht. Er zeigte mir seine Stadt. Führte mich durch die Gassen, Gärten, zu Flussufern und Kanälen. Er konnte verstehen, was ich in seiner Sprache kaum zu erklären fähig war, und sprach seine Sprache so, dass ich in der Lage war, alles zu verstehen. Wir schwammen im riesigen kalten See, hatten alten Käse zum Frühstück und jungen Wein zum Abendbrot. Er rauchte meine Zigaretten, ich fuhr sein Fahrrad und schlief in seinem Atelier mit geschliffenem Betonboden. Normal. Es ist durchaus wahrscheinlich, dass ich ihn trotz alledem mittlerweile wieder hätte vergessen können, wäre da nicht eine Merkwürdigkeit.

Jeden Tag verschwand Felix für zwei Stunden, und der gesamte Raum seines Ateliers war mit Tausenden Zeichnungen und Fotos ausgefüllt, die alle ein und denselben Baum darstellten. Ich musste einige Stunden ohne Schlaf verbringen und die Bilder genau studieren, um zu begreifen, dass es hier nicht zwei gleiche Zeichnungen, nicht zwei identische Fotos gab. Dann stellte sich heraus, dass Felix seit mittlerweile 15 Jahren – Tag für Tag – seinen Lieblings- und vertrauten Baum am Seeufer zeichnet und fotografiert. Ist das normal? Dachte ich, und dachte gleichzeitig über die Freiheit des Verurteilt-Seins nach, die Verurteilung zur Freiheit, die unendliche Bewegungslosigkeit der Veränderbarkeit, über die Einmaligkeit des Unveränderbaren und die Schemata der nicht existierenden Körper im Atlas der Normalanatomie.

Erschienen im Essayband: Taras Prochasko, Ботакє (Botakje), Iwano-Frankiwsk 2010.
Aus dem Ukrainischen übersetzt von Jurko Prochasko.